„Nichts ist absolut“
Susanne Peick („Polis – Magazine for Urban Development“) im Gespräch mit Jan Kollwitz, Deutschlands einzigem Keramikmeister, der nach japanischer Tradition arbeitet
Bevor Sie sich der Töpferkunst widmeten, waren Sie Schauspieler und spielten u. a. an der Seite von Günter Strack und Maria Schell. Was bewegt einen 23-Jährigen, diesen Beruf plötzlich an den Nagel zu hängen und sich fortan ausgerechnet mit japanischer Keramik zu beschäftigen?
Meinen ersten TV-Auftritt hatte ich bereits mit 13 Jahren. Darauf folgten viele weitere Engagements, die ich neben der Schule wahrnahm und die mich viele Jahre begeisterten. Nach dem Abitur besuchte ich eine Schauspielschule in Berlin und spielte auch ein Jahr Theater. Im Verlauf dieser Zeit wurde mir jedoch bewusst, dass ich die Schauspielerei nicht als „Lebensberuf“ weiterverfolgen wollte. Ursächlich hierfür waren vor allem die unsicheren Arbeitsbedingungen meiner älteren Kolleginnen und Kollegen. Ich wünschte mir ein hohes Maß an Autonomie, wollte unabhängig, aber auch sesshaft sein. Das sind Wünsche, die im Schauspielbusiness nur schwer umsetzbar sind.
Zeitgleich wuchs in mir der Wunsch, mich mit Bildhauerei zu beschäftigen, der aufgrund meiner berühmten Urgroßmutter, Käthe Kollwitz, natürlich vorbelastet war. In meinen Gedanken hörte ich die Kritiker sagen „Ist ja schön, was er macht, ABER…“. Mit diesem „ja aber“ wollte ich nicht leben. Während meiner Phase der Neuorientierung begegnete ich dann Horst Kerstan, seinerzeit Keramiker im Südschwarzwald. Er widmete sich der Produktion von Gefäßen, allerdings mit einem bildhauerischen Ansatz. Hierbei stieß er auf die künstlerische Gefäßkeramik des alten Japan des 16. Jahrhunderts, die unter Einfluss der alten Teemeister entstanden war. Die Keramiken dieser Zeit bewegten sich in einem Bereich zwischen Gefäß und Skulptur – damals ein weltweit einmaliger Ansatz. Diese in der Momoyama-Zeit entstandenen Gefäße sind bis heute singulär. Dieser kulturelle Impuls in Japan ist vergleichbar mit den Impulsen, die Mozart, Bach und Beethoven hier im Abendland für die Musik gaben.
Was hat Sie gerade an dieser Keramikkunst so begeistert, und worin besteht ihre Einzigartigkeit?
Als Schüler von Horst Kerstan hatte ich das große Glück, bei jemandem zu lernen, der fernab von Japan als Einziger einen japanischen Anagama-Brennofen besaß. Als ich die Stücke das erste Mal sah, war ich tief berührt. Bei der gewaltigen Hitze des Brennvorgangs (1340°C) verschmelzen die Aschenflug-Partikel mit der Ton-Oberfläche. Hieraus entsteht Glas. Gleichzeitig hinterlassen Rauch und Flammen sehr schön geschwungene graue und rote Färbungen auf den Gefäßen, die bis ins tiefe Blau-Violett reichen. Sich der Kräfte der Elemente dieses natürlichen Brennprozesses bewusst zu werden, ist absolut beeindruckend.
Folglich können Sie die Farbgebung und Struktur der Keramiken nicht beeinflussen. Konnten Sie diesen „Kontrollverlust“ über das eigene künstlerische Werk von Beginn an akzeptieren?
Auch wenn ich das Endergebnis nicht aktiv bestimmen kann, ist es mir doch möglich, auf den Prozess Einfluss zu nehmen, d. h. ihn z. B. so zu intensivieren, dass eine besondere Vielfarbigkeit auf den Stücken entsteht. Was mich jedoch in den Anfängen viel mehr faszinierte als das Ergebnis, war der Prozess selbst: Als jüngster Schüler bekam ich die unbeliebteste Nachtschicht des Brennvorgangs von ein Uhr nachts bis morgens um acht. Während dieser Stunden lauschte ich nur noch dem Prasseln des Feuers, beobachtete die Flammen und legte alle drei Minuten Holz nach. Dieser fast schon rhythmische Prozess hatte eine starke Wirkung auf mich.
Nach Ihrer Gesellenprüfung machten Sie sich mit 25 Jahren auf eigene Faust auf den Weg Richtung Japan. Welche Motivation trieb Sie hierzu an?
Ich suchte nach einem japanischen Lehrmeister. Alle Stücke, die mir Horst Kerstan von seinen Japanreisen gezeigt hatte, besaßen eine viel intensivere Farbgebung. In Japan wollte ich in Erfahrung bringen, wie diese Farbgebung zustande kam; und ob es vielleicht ein „altes Wissen“ gab, das mir Kerstan nicht vermitteln konnte.
...und wurden fündig?
Ja. Als Schüler von Meister Yutaka Nakamura lernte ich, dass ein japanischer Künstler versucht, jegliche Ego-Energien aus dem künstlerischen Prozess zu eliminieren. Mein guter Freund, der Schriftsteller Christoph Peters, hat es einmal sehr gut auf den Punkt gebracht: „Der größte Feind der japanischen Keramikkunst ist der gute Wille – der Wunsch des Töpfers, etwas Besonderes zu tun.“ Sobald wir absichtlich versuchen, etwas Schönes zu kreieren, entsteht eine Anspannung und Verkrampfung, die später die Selbstverständlichkeit des Gefäßes stört. Die japanische Teekeramik dient zwar einem bestimmten Gebrauchszweck und übernimmt auch dekorative Funktion, aber – und das ist das Entscheidende – sie hat auch immer eine bestimmte Ausstrahlung.
Das klingt kompliziert – können Sie dies näher erläutern?
Mir ging es ähnlich. Wie sollte ich als Meisterschüler die Ausstrahlung eines Gefäßes beeinflussen können? Mein Lehrmeister erklärte, er würde mich auf Dinge hinweisen, die ich erst später verstehen würde, da ich weitaus kürzer bei ihm bleiben würde (2 Jahre) als ein japanischer Schüler (in der Regel 7-12 Jahre). Zur Ausbildung gehörte, dass er mich stundenlang zum Unkraut jäten in den Garten schickte, wenn ich mich seiner Meinung nach zu intensiv an meiner Töpferscheibe beschäftigte. Damals verstand ich diese Maßnahme nicht. Erst im Verlauf der Jahre realisierte ich, dass es ihm natürlich nicht um das Unkraut ging, sondern darum, mir meinen Ego-Druck zu nehmen. Anders als in westlichen Kulturkreisen ist in der japanischen Keramikkunst Makellosigkeit kein Zeichen von Qualität; ganz im Gegenteil: Feine Risse, intensive und zum Teil unregelmäßige Färbungen sind durchaus gewünschte Merkmale, die letzten Endes zur besonderen Ausstrahlung der Gefäße beitragen.
Diese sehr tiefgreifenden Erfahrungen und Erkenntnisse beeinflussten sicherlich auch Ihre persönliche Entwicklung?
Ja. Doch auch wenn mich Japan komplett umgekrempelt hat, habe ich diese Entwicklung immer als stimmig empfunden. Ich sah plötzlich, dass sich dort eine Tür auftat, die mir einen ganz anderen Zugang zum künstlerischen Arbeiten eröffnete als das, was ich vorher in Deutschland gesehen und gelernt hatte. Und dennoch hatte ich nie das Gefühl, mich von meinen Wurzeln zu entfernen.
Fiel es Ihnen leicht, sich mit dieser Einsicht und diesem neuen inneren Gefühl in Deutschland wieder zurechtzufinden?
Ich habe in Japan vieles kennengelernt, das mir bis heute sehr gut gefällt: Der Umgang der Menschen untereinander ist feinfühliger, das japanische Essen ist köstlich und die besondere künstlerische Arbeitsweise des „Sich-Zurücknehmens“, anstatt mit seinem Ego vorzupreschen, entspricht meinem Naturell. Damals spielte ich auch mit dem Gedanken, für immer in Japan zu bleiben, bin dann aber mit dem Gefühl nach Deutschland zurückgekehrt, dass es vielleicht meine Aufgabe ist, etwas von dem, was ich in Japan kennengelernt, gesehen und erfahre hatte, in Deutschland bekannt zu machen. Ich wollte Menschen darüber informieren, dass es auch ganz andere Auffassungen von Kunst gibt und dass man auch die Idee unseres Wirtschaftssystems anders ausgestalten kann. Daneben war ich fest davon überzeugt, dass die besondere Ästhetik der japanischen Keramik, die eben auf viel mehr setzt als nur auf Funktionalität, auch in Deutschland Freunde finden würde.
Ihr Erfolg zeigt, dass Sie Recht hatten. Ihre Werke stehen in etlichen deutschen Museen sowie in Galerien in London und den USA. Ist die Faszination für Ihre Keramiken vielleicht auch Sinnbild unserer überladenen Gesellschaft, die sich nach mehr „Ruhe“ im Sinne von „weniger ist mehr“ sehnt?
Mit Sicherheit. Nehmen wir z. B. das Thema Nachhaltigkeit. Die Gefäße sind Werke, die zum Nachdenken anregen, denn sofern sie nicht beschädigt werden, können sie auch noch in 1.000 oder 10.000 Jahren existieren und benutzt werden. In solchen Zeiträumen zu denken, steht in einem absoluten Gegensatz zu der Schnelllebigkeit unserer heutigen Gesellschaft.
Es heisst außerdem, Ihre Werke sind tief im Zen-Buddhismus verwurzelt, der sich unter anderem auf die Erfahrung und das Handeln im gegenwärtigen Augenblick fokussiert. Inwiefern spiegeln Ihre Keramiken dieses Prinzip wider?
Während meiner Ausbildung in Japan kam ich mit der Praxis der Zen-Meditation nicht in Berührung. Trotzdem war das gesamte Arbeiten in der Werkstatt meines japanischen Lehrmeisters durchtränkt von Zen-Prinzipien, also tiefer Konzentriertheit und der besonderen Haltung, in der der Meister seine Stücke anfertigt. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland, beschäftigte ich mich weiter mit den Prinzipien und schloss mich einer Zen-Übungsgruppe an. Die Einführung in die Zen-Meditation hat mir ein Gefühl vermittelt, das ich zwar bereits aus Japan gut kannte, doch erst in der Praxis in seiner ganzen Klarheit wahrnahm. Stark vereinfacht bedeutet Zen, etwas zu tun, das keinen kommerziellen Sinn und Zweck erfüllt. Übertragen auf die thematischen Schwerpunkte Ihres Magazins sind es im urbanen Kontext auch die Bereiche, die keiner kommerziellen Nutzung unterliegen, aber das menschliche Wohlbefinden entscheidend unterstützen, wie zum Beispiel Grünflächen oder Parks. Hier werden die Zen-Prinzipien deutlich sichtbar. Produzieren wir Dinge ohne bestimmte Absicht, vermitteln sie die Ruhe und den Seelenfrieden, nach dem wir uns hier im Westen alle so sehr sehnen.
Ist diese Sehnsucht auch Basis Ihres wirtschaftlichen Erfolges?
Definitiv. Als ich in Deutschland meine Werkstatt aufbaute, realisierte ich, dass ich einen Wirtschaftsbetrieb würde führen müssen, was ich weder in meiner Ausbildung noch in meinem bisherigen Leben gelernt hatte. Mein naives Vertrauen sagte mir, dass ich das schon irgendwie schaffen würde. Daneben stellte ich sämtliche Prinzipien auf den Kopf: Anstatt möglichst schnell möglichst viel zu produzieren, das ich günstig verkaufen könnte, produzierte ich meine Werke möglichst langsam, in geringer Stückzahl und verkaufte sie zu hohen Preisen. Hieraus hat sich ein wirtschaftlicher Erfolg entwickelt, der die Menschen, die selbst im Wirtschaftsleben aktiv sind und meine Werkstatt besuchen, zum Nachdenken darüber anregt, ob die Prinzipien, nach denen wir derzeit unser Leben organisieren, richtig sind.
Wohnt Ihren Werken insofern auch ein Stück Gesellschaftskritik inne?
Ja, das kann man so sagen. Erst kürzlich habe ich einen Podcast gehört, in dem über „Burn-out-Kapitalismus“ gesprochen wurde – ein durch und durch menschengemachtes Problem. Gerade die Corona-Krise führt uns mehr denn je vor Augen, dass wir mit viel weniger auskommen, als wir denken. Dinge, die wir gar nicht mehr für möglich gehalten hätten, passieren nun. Problem: Diese tiefgreifenden Veränderungen müssen wir auch aushalten können.
Wie halten Sie persönlich diese Krise aus?
An dieser Stelle bin ich für 30 Jahre Zen-Praxis dankbar, die mir ein Gefühl von Unangreifbarkeit vermittelt. Im Zen fühlt man sich nicht mehr als Spielball der Geschehnisse, sondern wechselt in gewisser Weise die Ebene und kann die Gedanken, die einen im Alltag beherrschen, in Ruhe und Gelassenheit von außen betrachten. Das soll nicht esoterisch klingen. Im Grunde geht es um die Erfahrung, dass eine andere Haltung gegenüber dem Leben möglich ist und Gefühle nicht so absolut sind, wie sie einem in einem bestimmten Augenblick erscheinen. Im Zen kommen die eigenen Gedanken zur Ruhe, Ängste und Emotionen relativieren sich. In der jetzigen Krise, in der so viele Menschen so viel Angst haben, verbirgt sich enormes Potenzial, über unser Leben neu nachzudenken. Und trotz aller widrigen Umstände ist das eigentlich ein riesen Geschenk.
Um eine Frage zum Abschluss kommen Sie nicht herum: Sie sind einer der Urenkel der berühmten deutschen Bildhauerin Käthe Kollwitz. Inwiefern beeinflusst Ihre Herkunft Ihr Werk, und was würden Sie Ihre Urgroßmutter heute gerne einmal fragen?
Eigentlich habe ich gar keine richtigen Fragen an meine Urgroßmutter. Das, was ich durch ihre Tagebücher und die Fragmente kennengelernt habe, die ich mir während einer Reise nach Königsberg zusammenpuzzeln konnte, wo sie als Kind gelebt hat, haben in mir eine tiefe Liebe zu ihrer Haltung, ihrem Mensch-Sein und zu dem, was sie in ihrem Leben geleistet hat, ausgelöst. Würde sie mir heute begegnen, würde ich sie gerne einfach nur in den Arm nehmen und ihr dafür danken, dass sie mir mit ihrem Beispiel von Unbeugsamkeit und Kompromisslosigkeit in der künstlerischen Arbeit den Weg gewiesen hat. Die Stringenz, mit der sie ihre Ideale verfolgt hat, ist für mich immer ein großes Vorbild gewesen. Sie handelte aus einem tiefen humanistischen bzw. christlichen Impuls heraus. Dass sie sich plötzlich in einer Gesellschaft politisch orientierter Menschen wiederfand, war unausweichlich. Aber sie war nicht wirklich an abstrakten politischen Konzepten interessiert. Als ich das erste Mal im Käthe-Kollwitz-Museum in Köln ausstellen durfte, war ich sehr aufgeregt, weil ich unsicher war, ob meine Vasen neben dem Werk meiner Urgroßmutter würden bestehen können. Doch als ich nach Abschluss des Aufbaus die Szenerie auf mich wirken ließ, habe ich doch so etwas wie ein Wohlwollen aus Richtung meiner Urgroßmutter gespürt. Als Künstler zweifle ich sehr oft an meiner Arbeit – das hält mich wach und lebendig. Doch dieser Moment im Museum, in dem ich von meinen Zweifeln einen Schritt zurücktreten konnte, hat mich sehr glücklich gemacht. Er hat mir gezeigt, dass es sich gelohnt hat, bis hierher zu gehen; und dass es sich auch lohnt, weiter zu gehen.
Das ist ein sehr schönes Schlusswort. Vielen Dank für diesen Einblick in Ihr Leben.
Quelle: Polis – Magazine for Urban Development, 02/2020, SERENITY – Ein Leben in Gelassenheit